Waldtraut Lewin  |  Schriftstellerin und Autorin

letzte Aktualisierung
24.05.2017

Historisch genau und dabei aktuell – so ist ihr Schreiben

Waldtraut Lewin

Bei einer Lesung am 19. Juni 2016
(© Gundula Wiedemann)

Waldtraut Lewin wird 80 Jahre alt, an die siebzig Bücher hat sie veröffentlicht

von Christel Berger | Erschienen im "Neuen Deutschland" vom 07. Januar 2017

Cordoba war eine der wenigen spanischen Städte, die im 16. Jahrhundert flüchtlingsfreundlich war. Flüchtlinge waren damals die »Neuchristen«, getaufte Juden, die sich vor der Inquisition in Sicherheit bringen wollten. Doch als eine der Geflohenen, einer Prozession zusehend, aus Versehen eine Orangenlimonade auf den Mantel der Marien-Statue schüttet, kippt die Stimmung in der Stadt. Flüchtlingshäuser werden angezündet, Intoleranz und Hass breiten sich aus, nur wenige helfen den Ausge-grenzten.

Die Sache mit der verschütteten Limonade ist verbürgt. Das Thema des Buches so aktuell wie kaum ein anderes. »Cordoba« ist das bislang letzte Buch von Waldtraut Lewin. Die jugendlichen Leser, für die es geschrieben ist, erfahren viel über europäische Geschichte, erleben spannende Aktionen und eine rührende, ein bisschen kitschige Liebesgeschichte. So sind die Bücher dieser Schriftstellerin: historisch genau und dennoch aktuell, spannend, prickelnd, sinnlich. An die siebzig Bücher hat sie bisher veröffentlicht, und ich bin mir nicht sicher, welches ich hervorheben soll.

Ihr Erstling »Herr Lucius und sein schwarzer Schwan« (1973) erregte Aufmerksamkeit und mit »Federico« (1984) belegte sie endgültig einen Spitzenplatz unter der Romanciers der DDR – und das auf einem literarischen Feld, das in der DDR noch nicht so stark »beackert« war, dem historischen Roman. Bald stellte sich heraus, dass die Spezialistin für ältere Geschichte durchaus auch zur Gegenwart und jüngeren Vergangenheit Aufregendes zu sagen hatte und sich auch nicht unterkriegen ließ, als ihr Musikerroman »Ein Kerl, Lompin genannt« in den Wendewirren fast gänzlich unterging und ihr Verlag verschwand.

Sie schrieb – Krimis, Hörspiele, Biographien, Fantasy, Romane. Schreiben ist ihr Leben, (was nicht heißt, dass sie nicht auch spannend gelebt und geliebt hat, zwei Kinder und Enkelkinder versorgend). Weil die Verlage für Erwachsene ihre Angebote eher ignorierten, wandte sie sich vor allem kindlichen und jugendlichen Lesern zu, eben in der besonderen Art von historisch genauen und gleichzeitig phantasievollen Texten.

So entstand unter anderem die Trilogie »Ein Haus in Berlin« (1999), in der das Schicksal von Bewohnern eines Vorder- und Hinterhauses über mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verfolgt wird. Sie tummelte sich mit ihren Gestalten in Marrakesch, in Samoa, Konstantinopel, San Marko und beschrieb eine Liebe in Dresden, gerade als die Stadt in Trümmer fällt. Ihre poppige Goethe-Biographie (2004) bleibt einer meiner Favoriten aus diesem riesigen Werk.

In einem ihrer letzten Bücher – »Das Beiderwandkleid« (2015) – überrascht Waldtraut Lewin zum ersten Mal mit autobiographischen Einblicken. Sie erzählt von der Kindheit eines jüdischen Mädchens, das die Nazi-Zeit überlebt, weil der Großvater arische Papiere besorgt hat. Sie lebt mit der Mutter und deren Opernarien unauffällig in einer dunklen Wohnung in der Provinz. Die Nachkriegszeit wird von der Knappheit an Lebensmitteln, aber auch von der Oberschule und dem ungeheuren Drang nach Theater und Literatur bestimmt. Sie wird Operndramaturgin, Regisseurin und beginnt zu schreiben.

Dass sie Jüdin ist, war für sie nie eine Frage der Religion, sondern der Kultur und eine große Verpflichtung, Kenntnis und Verständnis für ihr Volk zu verbreiten. Schon in »Federico« beschrieb sie eine Szene, in der ihr Held Friedrich II den Vorwurf eines jüdischen Ritualmordes an Kindern ad absurdum führte. 2007 wartete sie mit dem ersten Band der Trilogie »Leonie Lasker – Jüdin« auf, wo es wieder historisch exakt und von der Fabel her fantasievoll und ganz Europa einbeziehend um die Wurzeln des Antisemitismus geht.

Weil sie anders als ein Wissenschaftler jüdische Geschichte von den Anfängen bis heute plausibel und spannend machen kann, schrieb sie von 2008 bis 2012 am Mammutwerk »Der Wind trägt die Worte. Geschichte und Geschichten der Juden – zwei Bände, die in jede Schulbibliothek gehören. Danach »ruhte« sie sich beim Erfinden des Lebens einer heutigen Anne Frank aus, um dann über den diesjährigen Heiligen Martin Luther einen kritischen Befund in Form eines turbulenten Romans – »DEM Lutherroman« – abzugeben.

Es ist kaum zu glauben, am 8. Januar wird sie 80 Jahre alt.